DIE WELT: Darmstadt wie zur Zeit des Zaren 14.07.10
Glockenspiel ruft russische Gemeinde nach alter Sitte zum Gebet
Von Joachim Baier
Фото Foto Frank Rumpenhorst.

Kirchenglocken hören sich in Deutschland meist majestätisch an. Auf der Darmstädter Mathildenhöhe sind die Klänge heller als gewohnt. Denn die russisch-orthodoxe Kapelle hat ein filigranes Glockenspiel.

Olga Kovshar bedeckt ihr Haupt mit einem Schleier, wenn sie die Treppenstufen zum Glockenspiel der Kirche auf der Darmstädter Mathildenhöhe emporsteigt. Das sei so Sitte, erzählt die 27-Jährige. Oben angekommen, steht die Studentin vor fünf Glocken. „Sie rufen die Gläubigen zum Gottesdienst“, erzählt sie. „Das Glockenspiel erklingt auch, wenn ein Evangelium gelesen wird.“

Die 27-Jährige bedient sich einer einfachen Technik. Die Klöppel der drei kleineren Glocken sind mit Stricken miteinander verbunden. Olga schlägt die u-förmig hängenden Stricke nur mit der Hand an, und schon entlockt sie den Glocken ihre Töne. Bei den beiden größeren Glocken ist die Technik ähnlich. Sie sind nur nicht miteinander verbunden. Kovshar spielt keine Lieder aus dem Gesangbuch, sie improvisiert. „Ich brauche vor allem ein Gefühl für Rhythmus.“

Das prächtig aussehende Gotteshaus heißt mit ganzem Namen Russische Orthodoxe Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Darmstadt. Ihre goldenen Türme glitzern in der Sonne. Eingeweiht wurde sie 1899. Die Bauten des weltberühmten Jugendstil-Ensembles um sie herum kamen später.

Erbauen ließ die Kirche das letzte russische Zarenpaar Nikolaus II. und Alexandra. Der Zar war ein Schwager des Großherzogs Ernst Ludwig (1868-1937) von Hessen-Darmstadt. Dem Herrscherpaar fehlte bei seinen Besuchen in Darmstadt eine Stätte für den russisch-orthodoxen Gottesdienst.
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Auch heute noch, so erzählt Priester Ioann Grintschuk, sei die rund 100 Menschen fassende Kapelle zu den Gottesdiensten „immer voll“. Der 42-Jährige sieht aus wie aus einem Bilderbuch. Langer, schwarzer Kaftan, schwarze Kopfdeckung. Sein Bart reicht ihm bis zum Bauch und ist so schütter, dass er den Blick durchlässt auf die lange goldene Kette mit Kreuz, die Priester Ioann trägt.

Sein Geld verdient Grintschuk als Chemiearbeiter bei Merck in Darmstadt. Er arbeitet in drei Schichten. Grintschuk hat auch drei Gemeinden zu versorgen – in Aschaffenburg, Kassel und Darmstadt. „Die Nachtschicht ist mir am liebsten“, erzählt er. „Dann habe ich für meine Gemeinden tagsüber am meisten Zeit.“ Sein Motto: „Kirche und Arbeit.“ Bei Olga Kovshar scheint es nicht anders zu sein: „Die ganze Freizeit verbringt sie hier“, sagt Grintschuk.

Während der Priester die Gläubigen erwartet, steht Olga bei ihren Glocken. Auf die Klänge werden auch Besucher der Mathildenhöhe aufmerksam. Sie bleiben stehen, lauschen und zücken den Fotoapparat.

Darmstadt wie zur Zeit des Zaren