Russische Kapelle noch ohne Lilienbecken

(von Darmstädter Tageblatt Ausgabe 03 vom 19.1.2017)

Darmstadt-Donnerstag – Bilder und Geschichten aus der Geschichte – Teil 3

Das Bild für unseren dritten Darmstadt-Donnerstag kommt von unserer Leserin Erika Simmonds. Sie hat uns eine Postkarte mit einer Ansicht der Mathildenhöhe geschickt. Einer Ansicht, die vertraut und doch fremd wirkt. Die Postkarte wurde am 25. Mai 1911 von einer Dame namens E. Bernhardt an ein Fräulein Anna Graf in Freudenstadt (Schwarzwald) geschickt. 

Die Absenderin, die damals wohl erst seit kurzer Zeit in Darmstadt lebte und in der Bismarckstraße 11 wohnte, schrieb: „Vom schönen Darmstadt sendet Dir herzliche Grüße deine E. Bernhardt. Es gefällt mir hier sehr gut und ich habe mich schon gut eingelebt.“ Zu diesem guten Einleben mag sicherlich auch ein Spaziergang über die Mathildenhöhe beigetragen haben. Die Karte selbst muss zwischen 1908 und 1911 entstanden sein. Im Jahr 1908 wurden sowohl Hochzeits­turm als auch das angrenzende Ausstellungsgebäude fertiggestellt. Damals zeigte die Künstlerkolonie ihre dritte Ausstellung auf der Mathildenhöhe, die Hessische Landesausstellung für freie und angewandte Kunst. Sie beschränkte sich nicht auf die Werke der Koloniemitglieder, sondern rief ausdrücklich großherzoglich-hessische Künstler und Handwerker auf, ihre Arbeiten zu zeigen, um damit das Können und die Leistungsfähigkeit des hessischen Kunsthandwerks zu demonstrieren.

Der Hochzeitsturm war in dieser Zeit noch nicht so „fertig“, wie wir ihn heute kennen. An der rechten Schmal­seite ist unter dem Fensterband des vierten Stocks noch die freie Fläche zu sehen, die seit 1914 von der Sonnenuhr des Künstlers Friedrich Wilhelm Kleukens geziert wird. Besonders ins Auge fällt die russische Kapelle. Sie war bereits 1899 geweiht worden, in dem Jahr also, in dem sich auf Initiative von Großherzog Ernst Ludwig (1868-1937) die Künstlerkolonie gründete. Auf dieser Karte sehen wir die Kirche noch mit einer Rasenfläche im Vordergrund. Das Wasserbecken, das zu der uns heute vertrauten Ansicht untrennbar gehört, wurde erst zur letzten Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie im Jahr 1914 entworfen und gebaut.

Mit der Anlage des Lilienbeckens (oder Lilienbassins) gelang es dem Architekten Albin Müller, die russische Kapelle in das architektonische Konzept der Mathildenhöhe miteinzubeziehen. Der Blick des aus der Innenstadt heraufkommenden Besuchers wird nun über das Lilienbecken zur Kapelle gelenkt, die damit harmonisch in die Jugendstilarchitektur eingebettet wirkt.

Russische Kapelle noch ohne Lilienbecken